Frager: Was ist Max Frischs „Homo faber – Ein Bericht“ für dich?
Hans Witthauer: Ich betrachte „Homo faber – Ein Bericht“ als ein unaufgeklärtes fiktives Verbrechen, als den vermutlich einzigen Cold Case in der Literaturgeschichte, der seit knapp 66 Jahren ungelöst geblieben ist. Die enthaltene und bisher unentdeckte Allegorie hat die Aufklärung umso fesselnder für mich gemacht.
Frager: Wie siehst du dich in diesem Fall selbst?
Hans Witthauer: Als lesender Ermittler. Eigentlich fast schon schade, als der Fall für mich geklärt war. Dieser ist übrigens spannender als ein „Sherlock Holmes“-Fall. Und bequem von zu Hause aus auf der Couch zu lösen.
Frager: Wie bist du auf die Allegorie gestoßen?
Hans Witthauer: Das war vor ca. 25 Jahren im Deutschunterricht. Wir sind gerade die Szene in Avignon durchgegangen, in der Faber mit Sabeth ins Bett geht. Ich habe mich gemeldet und gefragt, ob „Sonne und Erde und Mond“ nicht für die Protagonisten des Romans stehen könnten. Ich habe nämlich die Formulierung als seltsam empfunden. Erst wurde gelacht, dann diskutiert. Schließlich war die eine Hälfte dafür, die andere dagegen und ich gefangen. Ich habe begonnen, Tag und Nacht zu recherchieren.
Frager: Was hat dich gefangen gehalten?
Hans Witthauer: Ich kann es nicht genau sagen, aber ich konnte einfach an nichts anderes mehr denken. Mein Ruhepuls lag bei 140. Vielleicht war es diese Diskrepanz zwischen dem Geschriebenen und dem Erlebten, die mich nicht losgelassen hat. Wie hat Max Frisch so schön gesagt: „Als Stücke-Schreiber hielte ich meine Aufgabe für durchaus erfüllt, wenn es einem Stück jemals gelänge, eine Frage dermaßen zu stellen, daß die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können – ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können.“ (Max Frisch, Tagebuch 1946–1949)
„Homo faber – Ein Bericht“ ist vermutlich der einzige gelöste literarische Cold-Case-Fall in der Geschichte.
Hans Witthauer
Frager: Was war die zentrale Frage für dich?
Hans Witthauer: Hat er sie umgebracht.
Frager: Hat er?
Hans Witthauer: Ja.
Frager: Wie?
Hans Witthauer: Das konnte ich ihm eben lange nicht eindeutig nachweisen. Erst durch die Arbeiten an meinem Roman „Homo Faber – Ein Gericht“ ist mir der Durchbruch gelungen. Im Zuge dessen habe ich das letzte Puzzlestück gefunden und konnte damit Anklage erheben. Das war aber auch ein echt gemeines Puzzlestück von Max Frisch …
Frager: Verstehe. Das war dann wohl auch der Grund, warum es so lange gedauert hat, um mit dem Roman „Homo Faber – Ein Gericht“ anzufangen, oder?
Hans Witthauer: Ich habe tatsächlich vorher schon mehrere Anläufe unternommen, um das Thema als Theaterstück oder als Analyse aufzuarbeiten. Jetzt ist es eine Hommage an das Genie von Max Frisch in Form eines Kriminalromans geworden. Ich bin jedoch jedes Mal, wie oben beschrieben, an diesem einzelnen Detail gescheitert – dem letzten Beweis, der den Mord nachweisbar macht.
Frager: Okay, und den hast du jetzt gefunden?
Hans Witthauer: Offensichtlich …
Frager: Was ist mit den Diskrepanzen? Hast du da ein Beispiel?
Hans Witthauer: Die Recherche hat tatsächlich mehr Fragen aufgeworfen, als sie beantwortet hat. Je intensiver ich mich damit beschäftigt habe, desto weniger Antworten habe ich in der Sekundärliteratur gefunden, bis es irgendwann keine mehr gegeben hat. Um jedoch deine Frage zu beantworten: Die Aspisviper gibt es in Griechenland nicht …
Frager: Na und, was ist mit künstlerischer Freiheit?
Hans Witthauer: Max Frisch hat gesagt, dass das Buch von einem Techniker, einem Fachmann geschrieben wurde und es sehr wichtig sei, dass die Fakten genau stimmen und nicht ungenau sind. (vgl. Autoren erzählen: Max Frisch (YouTube) ab Minute 5).
Also warum verzichtet er bei einer dermaßen wichtigen Stelle auf Genauigkeit? Warum dieser Stolperstein? Hat er es einfach nicht gewusst? Aber falls er es doch gewusst hat: Was macht diese Schlange so bedeutend? Warum unbedingt diese Schlange? Warum keine Hornotter, die in Griechenland heimisch ist?
Frager: Und ist sie wichtig?
Hans Witthauer: Sehr sogar!
Die Schlange schlängelt sich um das Gerüst der Allegorie. Sie ist der Brotkrumen, der Fabers Schuld verrät.
Hans Witthauer
Frager: Verrätst du mehr?
Hans Witthauer: Nur so viel: Die Schlange hinterlässt drei Stiche. Das ist ein Hinweis …
Frager: Wie viele Stiche sind es denn sonst?
Hans Witthauer: Schlangen haben zwei Giftzähne. Ich erkläre das während den Ermittlungen sehr detailliert. Wenn man die Bedeutung der Schlange kennt und unter diesem Gesichtspunkt den Unfall und Fabers Rettungsaktion analysiert, ist es relativ simpel zu verstehen, wie er Sabeth umgebracht hat. Selbst ohne Kenntnisse über die Schlange, wenn man nur den Unfall und die Rettungsaktion betrachtet, ist es fast schon erstaunlich, dass bisher niemand auf gewisse Dinge gekommen ist. Mehr noch, es gibt keine Analyse in der Sekundärliteratur, die den Unfall genauer unter die Lupe nimmt. Eigentlich auch sehr erstaunlich …
Frager: Hast du vielleicht noch ein Beispiel?
Spannend ist außerdem, dass die Tochter im Originalmanuskript vom 20.08.1957 anfänglich noch Elisabeth Seifert geheißen hat. Das hat Max Frisch ausgebessert und sie im publizierten Roman Elisabeth Piper genannt. Warum hat er das geändert? Zugegeben ist Piper vom Klang her einfach cooler. Oder gibt es da noch mehr?
Frager: Wie kommt man Faber auf die Schliche?
Hans Witthauer: Die Beschreibungen in Fabers Bericht enthalten Fehler und gleichzeitig Hinweise von Max Frisch. Insbesondere beschreibt er Dinge zwischen den Worten, die sich nicht durch den Schlangenbiss erklären lassen. Das ist das, was Frisch in seinem „Tagebuch 1946–1949“ gemeint hat mit: „Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten.“ Und tatsächlich, es ist für Faber praktisch unsagbar, was er getan hat. Deshalb objektiviert er, deshalb sein Bericht. Um das faktisch Erlebte ans Licht zu bringen, braucht es dann schon „Homo Faber – Ein Gericht“.
Frager: Okay, was verrät die Schlange noch?
Hans Witthauer: Frisch hat die Allegorie wie ein starres Gerüst konstruiert, wie einen festgelegten Handlungsrahmen. Um diese Montage sichtbar zu machen, benötigt man den Schlüssel, die Schlange, die in weiterer Folge vier Ebenen öffnet. Erst wenn man diese Ebenen kennt, kann man verstehen, was Faber mit seinem Bericht wirklich beabsichtigt: Er möchte sich vor Hanna rechtfertigen und sie von sich überzeugen. Deshalb das Stilmittel der Allegorie. Ihr Verwendungszweck war immer die Überredung. (vgl. Eine Allegorie?)
Max Frisch schreibt, unsichtbar für Walter Faber, über dessen Schuld. Das ist der Zweck der Allegorie.
Hans Witthauer
Frager: Okay, aber welches Motiv hat Faber, um seine eigene Tochter zu ermorden?
Hans Witthauer: Er ist ein Sterbender, für den alle Frauen Ivy, also Kletten, heißen und der seit Hanna keine befriedigende sexuelle Beziehung mehr hatte. Er ist Sabeth überdrüssig, todkrank und der Frau, die er immer geliebt hat, nahe. Dieser Cocktail macht ihn für Sabeth so gefährlich. Er hat nichts zu verlieren und Sabeth ist von der „Hanna-Mädchengesicht-Frau“ in die „Ivy-Klasse“ abgerutscht. Doch er kann mit Sabeth nicht einfach Schluss machen und erwarten, dass die Mutter sich dann auf ihn einlässt. Wie also löst man diese Problemstellung? Faber sagt: „Ich war nicht imstande, alles zugleich in meine Rechnung zu nehmen; aber irgendeine Lösung, fand ich, muss es immer geben.“ (Max Frisch (1977), Homo faber – Ein Bericht. 85. Aufl., S. 159) Und er hat eine gefunden. Festhalten kann man: Faber ist nicht schuldlos schuldig, er ist schlicht nur schuldig.
Frager: Will sich Faber nicht eigentlich nur verteidigen?
Hans Witthauer: Die Frage ist, wovor? Vor welcher Anklage? Da bleibt nur Hanna Piper. Als Faber in Athen ankommt, weiß Hanna ja noch nicht, dass er was mit der gemeinsamen Tochter hatte. Das findet sie erst peu à peu heraus, unter anderem auch, weil Sabeth Postkarten geschrieben hat, in denen sie von einem älteren Mann berichtet, der sie heiraten wolle. Erst als er merkt, dass seine Tat nicht zur Verdeckung der Inzucht geführt hat und Hanna auch noch seine Annäherungsversuche zurückweist, beginnt er zu schreiben. Quasi als eine Art Notwehr. Dabei macht er wie jeder Verbrecher Fehler. Diese Fehler hat Max Frisch sehr geschickt eingebaut. Man überliest das wirklich leicht. Er will Hanna und natürlich auch die LeserInnen für sich gewinnen und dahin gehend ist ihm jede Methode recht. Er ist schließlich todkrank.
Frager: Wie kommst du darauf, dass Faber todkrank ist?
Hans Witthauer: Das sagt Frisch selbst in „Max Frisch – Selbstanzeige (YouTube)“ ab Minute 6.
Frager: Was ist mit den Initialen?
Hans Witthauer: Gute Frage! Max Frisch hat MF, Walter Faber WF. M und W sind Ambigramme. Eine Technik, die er ebenso im Bericht anwendet. Kurz hier noch ein Wort zur Erzählperspektive: Diese ist vermutlich einzigartig. Max Frisch schreibt als Walter Faber, ist aber auch gleichzeitig Fabers Schlange. So baut Frisch das, was Faber verschweigen will, als Allegorie ein, unsichtbar für Faber. Dadurch verrät er ihn. Max Frisch ist auch ziemlich hinterlistig.
Frager: Warum sollte Frisch so ein ausgeklügeltes Verbrechen in sein Buch schreiben?
Hans Witthauer: Frisch hat sich im Nebenfach für Forensische Psychologie eingeschrieben, da er sich davon erhofft hat, tiefere Einblicke in den Kern menschlicher Existenz zu erlangen, ein Aspekt, der meiner Meinung nach in der Forschung von „Homo faber – Ein Bericht“ zu kurz kommt.
Frager: Gibt es auf die Allegorie eigentlich Hinweise von Max Frisch?
Hans Witthauer: Nicht viele, aber wenn man weiß, wonach man suchen muss, wird man fündig. Er hat tatsächlich interessante Andeutungen gegenüber Volker Schlöndorff gemacht. So hat er auf die Frage von Schlöndorff, wie er sich den Walter Faber vorgestellt hat, geantwortet, dass dieser bei ihm Schweizer sei, weil er selbst auch Schweizer ist. Jedoch hat er sich den Walter Faber immer wie den Schweden Max von Sydow vorgestellt, der bei Ingmar Bergmans „Das siebente Siegel“ mit dem Tod Schach spielt (vgl. Homo Faber – Volker Schlöndorff im Gespräch (YouTube) ab Minute 35). „Das siebente Siegel“ ist dabei eine Allegorie mit dem einfachen Thema: dem Menschen, also dem Homo. Das finde ich fürwahr sehr spannend, dass Frisch hier auf eine Allegorie mit einem 1,94 Meter großen, strohblonden Hünen verweist. Ein Schwede als Schweizer – nicht gerade der typische Schweizer. Außerdem wurde Max von Sydow erst durch „Das siebente Siegel“ 1957 bekannt. Das schließt natürlich nicht aus, dass Frisch sich jemanden wie Sydow vorgestellt hat, es mutet aber schon seltsam an.
Frager: Was noch?
Hans Witthauer: Frisch hat, nachdem er den Film „Homo Faber“ gesehen hatte, zu Schlöndorff gesagt: „(…) ja, es ist alles wunderbar, bis auf das Ende. Dann habe ich gesagt, ja, aber was meinst du denn, was da anders sein könnte. Da hat er gesagt: Das weiß ich nicht, aber das würde uns dann schon einfallen. Nichts ist fertig. Man könnte noch mal dran arbeiten und es gäbe dann vielleicht doch noch eine andere Fassung.“ (Eine Lange Nacht mit Volker Schlöndorff zum 80. Geburtstag)
Und diese andere Fassung ist nun fertig. Wenn man meine Version kennt, versteht man, was Frisch möglicherweise an dem Ende des Films nicht gefallen hat.
Frager: Warum eigentlich drei Ermittlerinnen? Frauen in höheren Positionen hat es bei der Polizei ja erst viel später gegeben.
Hans Witthauer: Die Idee zu meinem Roman „Homo Faber – Ein Gericht“ geht auf Vorgaben von Max Frisch zurück. In seiner Kompositionsskizze hatte er den ersten Teil mit „DIE SUPER-CONSTELLATION“ und den zweiten Teil mit „DIE EUMENIDEN“ betitelt. (vgl. Walter Schmitz (1983), Die Entstehung von Homo faber. Ein Bericht. In: Walter Schmitz, Frischs Homo faber. 1. Aufl., S. 64 f.) Auch Rhonda L. Blair hatte durch ihre ausgezeichnete Analyse Einfluss auf die Gestaltung meines Romans. (vgl. Rhonda L. Blair (1983), „Homo faber“, „Homo ludens“ und das Demeter-Kore-Motiv. In: Walter Schmitz, Frischs Homo faber. 1. Aufl., S. 142) Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten.
Frager: Eine letzte Frage: Könnte das, was Faber in seinem Bericht schreibt, nicht alles Zufall sein?
Hans Witthauer: In dieser Anordnung und Logik? Nein, denn dann könnte man auch geplant im Lotto gewinnen.
Frager: Vielen Dank für das Gespräch.